Ein Reiseetui aus vergangenen Tagen
Jörg Weiß,
vom 14.04.2013
Manchmal gibt es auf Flohmärkten noch Über- raschungen, selbst heute noch, wo die Zeit der günstig angebotenen MBS10 Stereomikroskope aus dem Osten längst vorbei ist.
Im letzten Sommer habe ich auf dem Rheinauen-Floh- markt in Bonn ein schönes Holzkistchen gefunden, das sich als Reagenzienetui für den Mikroskopiker entpuppte. Leider hatte der Verkäufer keine Idee, wo das gute Stück her stammt. Eine Einprägung auf den Böden der Gefäße im Inneren gibt jedoch einen Hinweis: dort findet man "Bergmann & Altmann Berlin NW7". Dazu später mehr.
Eigentlich nicht wirklich etwas Besonderes, hat mir das Kästchen aber doch so gut gefallen, dass ich es mitgenommen habe und heute hier kurz vorstellen möchte. Auch wenn die Fertigungsqualität der einzelnen Glasfläschchen nicht so ganz meinem heutigen Qualitätsanspruch an solche Gerätschaften ent- spricht.
Nun, dass das Kästchen aus Berlin stammt, liegt bei der oben erwähnten Beschriftung nahe. Ein wenig Googlen im Internet bringt dann aber doch noch etwas mehr zu Tage. Ich bin auf die Franz Bergmann und Paul Altmann K.-G. Berlin NW7, Luisenstraße 45 gestoßen. Die Firma hat diverse Apparate und Gerätschaften rund um medizinischen und naturwissenschaftlichen Laborbedarf hergestellt und vertrieben. Zeitlich ist sie wohl in den 20ger und 30ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einzu- ordnen.
Zum hier gezeigten Kästchen direkt habe ich jedoch leider nichts gefunden. Immerhin gibt es die Luisenstraße noch: sie liegt ein wenig östlich des Spreebogens und natürlich ist die Firma dort nicht mehr zu finden.
Der geöffnete Kasten gibt seinen Inhalt frei

In der Mitte des Schuberkastens ist neben den 12 in Einzelhalterungen steckenden Reagenzienbehältern noch Platz für Kleinteile wie z.B. Objektträger, Deckgläser, ein kleines Besteck und Filterpapier.
Öffnet man den Schuber des schön gearbeiteten Buchenholzkastens, wird der Blick frei auf zwölf einzelne Bakelit-Behälter, die jeder an seinem Platz in einer umlaufenden Lochleiste stecken und so sicher gehalten werden. In der Mitte bleibt dabei noch Platz für verschiedene andere Utensilien, die zur Erstellung mikroskopischer Präparate benötigt werden. In meinem Exemplar befanden sich dort zwei nette kleine Pappschachteln mit Filterpapieren unterschiedlicher Größe, aber der Platz reicht auch für ein kleines Besteck, Objektträger und Deckgläser, so dass man alles beisammen hat, was benötigt wird.
Erstellung mikroskopischer Präparate? Könnte der Zweck des Kastens nicht ein ganz anderer gewesen sein? Nein! Denn die Behälter sind beschriftet und somit eindeutig für Reagenzien vorgesehen, wie sie für die Anfertigung von Dauerpräparaten inklusive Färbung benötigt werden.
Im Einzelnen finden sich Behälter für die folgenden Stoffe und Farblösungen: Alkohol, Xylol, Giemsa-Lösung, Jod-Kaliumjodit, Salzsäure-Alkohol, Paraffin, Zedernöl (zur Immersion?), Karbol-Gentianaviolett, Mehylenblau nach Löffler und Karbolfuchsin. Aber auch zwei unbeschriftete Behälter für eigene Ergänzungen sind vorhanden.
Die Zusammenstellung lässt vermuten, dass das Etui für einen Arzt gedacht war, der auch auf Reisen Gewebeschnitte zur Diagnose und Dokumentation erstellen konnte.
Die Reagenzienbehälter
Die Bakelit-Behälter sind verschraubt und sowohl die Kappe als auch der Fuß tragen eine - manchmal etwas schräg - aufgedruckte Beschriftung zum Inhalt. Um Verwechslungen sicher auszuschließen, sind aber auch die gläsernen Schliffkappen der einzelnen Reagenzienfläschchen entsprechend beschriftet. Jede einzelne Flasche hat neben der Kappe noch einen Tropfstab zur Entnahme des Inhalts, der ebenfalls eingeschliffen ist. In geschlossenem Zustand sichert das Bakelitgefäß den Inhalt also nicht nur gegen Glasbruch, sondern hält auch Tropfstab und Kappe an ihrem Platz. Alle Glasteile sind aus einfachem klaren Pressglas hergestellt. Die noch in Schutzpapier eingeschlagene Flasche im zweiten Bild oben sowie die Papierstreifen zwischen den Schliffen jeder Flasche zeigen: das Etui ist unbenutzt und war nie im Einsatz.
Anhand der Qualität mancher Schliffe vermute ich allerdings, dass der Inhalt zumindest einiger Flaschen im Zweifelsfall nicht am gewünschten Ort geblieben wäre. Schade eigentlich, denn die Konstruktion mit eingeschliffenem Tropfstab und Schliffkappe sowie der genau passenden Verschraubung des Schutz- behälters ist sehr sinnvoll ausgearbeitet.
Somit ist die Frage, wo und wann das Kästchen hergestellt wurde und für welche Verwendung es wirklich gedacht war leider nicht mit letzter Sicherheit zu klären. Es bleiben neben dem Firmennamen und dem Ort Berlin die gemachten Vermutungen und ein etwas zwiespältiges Gefühl ob dieses zunächst sehr schönen Gegenstandes, der viele sinnvolle Ideen umsetzt, aber dann im Detail die Praxistauglichkeit vermissen lässt. Oder sollten die Flaschen mit einer entsprechenden Schliffpaste doch die notwendige Dichtigkeit erreichen?
Alles in Allem: seinen Ehrenplatz im Regal hat sich des Mikroskopikers Reiseetui verdient.
Eine Bitte habe ich an die Leserinnen und Leser: sollte jemand ein solches oder ähnliches Kästchen kennen und etwas zum Zweck, zum Alter und / oder Genaueres zum Hersteller sagen können, würde ich mich sehr freuen.
Am einfachsten geht es über die Info-Mail der MKB Webseite:
info(at)mikroskopie-bonn.de
Nachtrag: Das Rätsel ist gelöst ...
Im Oktober 2013 erreichte mich eine Nachricht von Herrn Dr. Alfons Renz (Uni Tübingen), der ein ähnliches Kästchen auf einem Tübinger Flohmarkt erstanden hat.
Sein Kasten ist ein klein wenig anders gebaut, aber ansonsten identisch. Der Hersteller ist, wie in diesem Fall an einem eingenagelten Blechschild erkennbar, die Firma 'Medicihaus, Aktiengesellschaft, Berlin NWE 7, Karlstr. 31'. Herr Renz besitzt auch ein 'Wehrmachtsmikroskop' von R. Winkel, in dessen hölzerne Transportkiste das Kästchen passt.
Seine eigenen Nachforschungen haben Herrn Dr. Renz auf das englisch- sprachige Web-Journal
Modern Microscopy zu einem Artikel von Herrn John Gustav Delly geführt, der das Mikroskop und auch das Reagenzienkästchen beschreibt. Eine schöne Bestätigung:
Winkel-Zeiss WWII Military Field Hospital Microscope Kit
Für eine Kriegsproduktion spricht ebenfalls, dass offenbar ungenügend abge- lagertes Holz verwendet wurde, so dass heute die Bakelit-Behälter nicht mehr in die verzogenen Bohrungen passen. Und auch die von mir monierte etwas unsaubere Ausführung der Schliffstopfen an den Flaschen meines eigenen Etuis könnte hiermit eine Erklärung gefunden haben. Die leicht unterschiedliche Ausführungen von verschiedenen Herstellern passen ebenfalls ins Bild: der Auftraggeber wird seinerzeit mehrere Firmen mit der Produktion betraut haben, um nicht von einem einzelnen Lieferanten abhängig zu sein.
Herzlichen Dank an Herrn Dr. Renz, der mit seiner Rückmeldung das Rätsel um den Reagenzienkasten gelöst hat. Obwohl Reiseetui nun nicht mehr der richtige Begriff ist ...